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[heft 10] [juni 2014] wien - st. wolfgang



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Das Schauen, das Schweigen, das Warten
Mario Karl Hladicz


Ich träumte, ich sei ein Gnu in der Steppe. Eine lange Dürre hatte allen Tieren das Leben schwer gemacht. Auch meine Herde war verzweifelt auf der Suche nach einer Wasserstelle. Nach endlosem Umherwandern fanden wir endlich einen halbvertrockneten Fluss. Gierig stellte ich mich ans Ufer und begann zu trinken, meine klapprigen Beine knickten immer wieder ein, so geschwächt war ich schon. Ohne auch nur einen Blick um mich herum zu werfen, trank ich den halben Fluss leer und noch als plötzlich ein riesiges Krokodil aus dem Uferschlamm hervorschoss und auch schon seine Zähne in meinen Hals schlug, trank ich ungerührt, bis zum Morgen.

Ungefähr eine Stunde nach dem Erwachen bin ich noch immer das Gnu. Alles in mir drängt zu einer verspäteten Flucht: Ich fliehe aus der Wohnung, wie ich im Traum zuvor dem Schnappmaul des Krokodils hätte entfliehen sollen. Ein wenig irre ich in der Stadt umher, dieser modernen Steppe. Die Wildvögel sind durch Großstadttauben ersetzt, aus den kichernden Hyänen wurden aus Handtaschen kläffende Chihuahuas. Da laufe ich meiner Ex-Frau über den Weg. Wir plaudern über dies und das, scherzen über einen gemeinsamen Bekannten, an den ich mich nicht erinnere, und erst als ich nach der Verabschiedung um die die nächste Häuserecke biege, setzt die Verwunderung darüber ein, dass mein Sprechen noch immer nicht gänzlich im Großstadtwüstenstaub versandet ist.

Meine Zerrüttung lässt mich in ein nahes Einkaufszentrum tappen. Hier hoffe ich, meinem altbekannten Gefühl, dass bereits alles Wesentliche in meinem Leben vonstatten gegangen ist, ein wenig ungestörten Auslauf erlauben zu können. Dieses Gefühl nämlich lässt mich überwiegend nur noch schauen, schweigen und warten – drei Tätigkeiten, die in einem Kaufhaus nicht weiter auffallen. Ich setze mich in ein Café und wirke wie ein genervter Familienvater, der sich für ein halbes Stündchen von einkaufswütiger Frau samt Kind losgesagt hat und nun darauf wartet, dass die beiden wieder um die Ecke biegen, vollgepackt mit tollen Sachen. Die Ereignisse um mich herum versetzen mich in einen angenehmen Taumel: ein altes Ehepaar geht an mir vorbei. Der Mann sieht eine Apotheke und sagt: Ich könnte gleich meine Medikamente holen! Doch die Frau winkt entschieden ab und meint: Ach, morgen ist auch noch ein Tag. Gemächlich zieht das Paar vorüber, ungläubig dreht sich der Greis noch einmal nach der Apotheke um. Dem Paar entgegen kommt eine Frau mit einem jungen Hund. Immer wieder stellt der unwillige Welpe das Laufen ein und lässt sich auf den Boden plumpsen. Die Frau lässt sich davon nicht beirren; gleichmütig schleift sie den Hund wie eine knurrende Reisetasche hinter sich her. So legen sie den Weg gemeinsam zurück: entschieden unentschieden. Die Vorgänge hier ließen sich endlos betrachten. Schon gefällt mir ein Mann, der ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich bin schuld“ trägt und in der Nähe eines auf den Boden gefallenen Eisbechers steht. Neben mir taucht ein Kleinkind auf und fragt mich: Hab ich eine Windel an? Ich nicke schwach, zahle und nehme Aufstellung vor dem großen Elektrofachmarkt. Hier herrscht wie üblich der größte Betrieb. Die Leute schwärmen aufgeregt um Ein- und Ausgang herum, es scheint, als wollten sie sich vor dem endgültigen Kollaps noch einmal kräftig mit dem Allernötigsten eindecken: sie strömen heraus mit den neuesten Kaffeemaschinen und Handstaubsaugern, Kleinfamilien schleppen vergünstigte Flachbildfernseher wie Miniatursärge in Richtung Parkdeck. Ich verfolge das Geschehen noch ein wenig, dann beginnt langsam alles zu flimmern und ich trete den Heimweg an. Wieder einmal ist es jetzt ein Leichtes, mich vom Einkaufszentrum und seinen Teilzeitbewohnern zu lösen: angenehm sinnlos baumeln meine leeren Hände durch die Straßen.

Ich liege auf der Couch, im Fernsehen bewirbt eine gutaussehende Frau ein Produkt, das mir zum Rätsel wird. So viel steht fest: kauft man es, wird man attraktiver, sympathischer, erfolgreicher. Mehrmals hält die Frau das mysteriöse Produkt lachend in die Kamera. Ein Diätdrink? Jetzt wirft sie vor lauter Freude den Kopf in den Nacken und schüttelt ihr Haar! Oder doch ein Shampoo? Ich werde nervös, viel Zeit bleibt mir nicht mehr, um die sich mir darbietenden Vorgänge zu kapieren. Die Frau erwähnt noch einmal den Namen des Produkts und endet mit den Worten: Alles ok. Tatsächlich hat sich mir das Produkt nicht erschlossen. Werde ich gerade zu einem alten Unverständigen, der mit der Welt und seinen rasanten Erfindungen nicht mehr Schritt halten kann? Ich drehe mich zur Seite und versuche, den Werbespruch der Frau zu einer speziell an mich gerichteten Beruhigung umzudeuten. Doch aus meiner Besänftigung wird rasch ein stummer Jammer, denn ich denke: Wir sind ok. Ich bin ok. Ich bin, oje. Ich bin, oh weh!
Während ich aus dem Fenster schaue, muss ich (wieder einmal) an meine tote Mutter und an meine spärlichen Besuche bei ihr im Altersheim denken. Nach der Nachmittagsjause schob ich sie oft in ihrem Rollstuhl ein paar Runden um den Gebäudekomplex, bevor wir vor einem kleinen Gehege mit zwei unbeweglichen Schafen stehen blieben. Stumm sahen Mutter und ich den Tieren beim Umherstehen zu. Weder fütterten wir sie, noch versuchten wir, sie durch den grobmaschigen Zaun hindurch am Kopf zu kraulen oder in ihre dichte Wolle zu fassen. Wir begnügten uns damit, für ein paar Minuten ihre Genügsamkeit zu beobachten. In diesen Momenten näherten wir uns wohl innerlich den Schafen an: wir gaben uns zufrieden damit, dem starren Leben ins Auge zu blicken. Erst wenn eines der Tiere plötzlich zu scheißen begann oder ein lärmendes Kind auftauchte und am Zaun rüttelte, zogen wir uns wieder still und heimlich zurück.

Im rasch einsetzenden Dunkel muss ich mir eingestehen: Aber nein, so war es gar nicht! Kein einziges Mal ging ich mit Mutter zum Schafsgatter. Unverzüglich wollte sie nach der Jause vom Essensraum wieder zurück in ihr kleines Zimmer geschoben werden. Dort kaute sie dann noch ein wenig an einem Kuchenstück oder einem trockenen Keks herum, schaute, schwieg und wartete, vielleicht darauf, dass ich endlich wieder verschwand, im Großen und Ganzen jedoch wohl eher auf das Ende. So wie ich heute! Schon überprüfe ich, ob ich nicht zufällig eine alte Semmel in der Hand halte, die ich in den Kaffee tunken könnte.

Über meinem Eingeständnis ist es Nacht geworden. Die Dunkelheit draußen erscheint absoluter denn je. Weit und breit ist nichts und niemand zu sehen, sogar die Straßenbeleuchtung ist erloschen. In keinem der umliegenden Häuser brennt Licht, kein einziger Autoscheinwerfer huscht vorbei. Es ist, als stehe die allgemeine Katastrophe unmittelbar bevor. Da plötzlich wird in einem Haus gegenüber ein Lichtschalter immer wieder an- und ausgemacht. Hat dieses aufgeregte Blinken etwas zu bedeuten? Ist es etwa ein allgemeines Notsignal, eine letzte Warnung vor dem Anfang vom Ende? Oder gilt es gar mir persönlich, soll ein stiller Trost sein, gesendet von einem anderen Krisenhaften? Nach einiger Zeit bricht das Geblinke ab, alles ist wieder schwarz. Ich warte noch ein wenig, dann gehe ich zum Lichtschalter und schalte ihn aus, ein, aus, ein, aus.




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